Wie kann die Wissenschaft im Ukrainekrieg alte Klischees vom Osten überwinden? Die deutschen Osteuropaforscher tagen in Regensburg.
Welche Folgen hat der russische Angriffskrieg für das wissenschaftliche Verständnis von Osteuropa? Zu Beginn der Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg stellte dessen Direktor, der Historiker Ulf Brunnbauer, diese Frage. Wie kann die Forschung etwa Äußerungen einordnen, dass Russland sich als antiimperialistische Kraft sieht? Die veränderte Weltlage fordere neue Begriffe und Paradigmen, sagte Brunnbauer, ohne dass die Forschung essenzialistisch werden dürfe. Cindy Wittke, die Leiterin der politikwissenschaftlichen Forschungsgruppe am IOS, zeichnete die weltpolitische Entwicklung nach: Auf der Tagung von 2016 habe man noch über eingefrorene Konflikte in Osteuropa beraten; in Nagornyj Karabach, in der Ostukraine, im Kosovo und in der Republika Srpska gärte es unterhalb der Schwelle eines „heißen“ Krieges.
Viele Vorträge boten Analysen der ukrainischen Gesellschaft und der politischen Position des Landes im weltpolitischen Geflecht. Eine Forschergruppe der Kiew School of Economics hat sich mit der Resilienz der Ukrainer im Angesicht des Krieges beschäftigt. Maryna Rabinovych stellte die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Netzwerke innerhalb ukrainischer Gemeinden (Hromadas) heraus. Die dezentralisierte kommunale Tektonik erlaube einen Rückzug ins Lokale – und somit einen Schutz vor politischen Schocks.
Netzwerke innerhalb der Arbeiterklasse
Dass sich die Ukraine nicht erst seit 2014, dem Maidan und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine, in Richtung Westen orientiert hat, sondern es sich um einen kontinuierlichen Prozess innerhalb des Landes handelte, zeigten Denys Gorbach und Andrii Nekoliak: Soziale Zusammenhänge und private Netzwerke innerhalb der Arbeiterklasse – ein soziologisches Modell, das Gorbach in der Diskussion Kritik eintrug – hätten seit 2002 die ukrainische Identität gebildet und die positive Meinung von Russland umgekehrt. Ein wichtiges Vehikel sei dabei die Abneigung von allem Politischen gewesen, sagte Gorbach. Nekoliak legte dar, dass mittlerweile ein national-ukrainischer Blick in die eigene Vergangenheit dominiere – von Marschall Zhukov zu Stepan Bandera.
Der Krieg hat eine globale Dimension. Julien Nocetti zeigte, dass westliche IT-Unternehmen im Krieg zu eigenen Akteuren geworden sind – mit der Möglichkeit zum „Agenda-Setting“. Microsoft verbreitete Instruktionen für defensive Operationen und dokumentiert russische Kriegsverbrechen. Patryk Labudas Ansatz war von pessimistischem Realismus geprägt. Er widersprach der verbreiteten Sicht, dass der globale Süden die westlichen Sanktionen nicht mittrage. Die Trennlinie verlaufe nicht zwischen globalem Westen und globalem Süden – sondern zwischen kleinen Staaten und Hegemonen, wie sie China und Indien auf regionaler Ebene seien. „Wir leben in einer westzentrischen Welt.“ Der globale Süden unterschätze die Dimension des Krieges, allerdings habe auch die Ukraine nicht versucht, mit ihm in einen Dialog zu treten.
Die Vorträge von Martin Müller (Lausanne) und Gwendolyn Sasse (Berlin) umrahmten die Tagung konzeptionell. Müller zielte darauf ab, den „Dekolonialismus zu dekolonialisieren“ und Osteuropa in diese theoretische Strömung einzuordnen. Der Dekolonialismus, derzeit aufstrebend, wolle hegemoniales Wissen nicht nur analysieren wie der Postkolonialismus, so Müller, sondern aktiv ein anderes Wissen fernab westlicher Rationalitätsvorstellungen aufbauen. Immer noch sei der Osten chronisch marginalisiert: Er habe keinen Ort in der Binarität von globalem Norden und Süden, die zeitliche Festlegung des Postkolonialismus auf 1492 verkenne frühere koloniale Strukturen in Europa.
Quelle : faz